Ruth Dreifuss in NZZ: “«Der Staat muss den Drogenmarkt regulieren und die Gefahren in den Griff bekommen»

INTERVIEW von Dorothee Vögeli

Sie sind alte Weggefährten, die ehemalige Bundesrätin Ruth Dreifuss und der Psychiater Ambros Uchtenhagen. Einst engagierten sie sich für die kontrollierte Heroinabgabe. Heute kämpfen sie für eine Entkriminalisierung aller Drogen.

Wann haben Sie Ihren letzten Joint geraucht?

Ruth Dreifuss: Ich habe noch nie Cannabis geraucht. Auch Alkohol spricht mich nicht an. Aber ich bin eine Raucherin. Zwar rauche ich wenig, manchmal mehrere Wochen nicht. Würde ich jedoch Zigaretten kaufen, wäre ich rasch wieder bei einem Päckchen pro Tag. Trotzdem bin ich nicht abhängig, weil ich auch ohne funktionsfähig bin und nicht alles Erdenkliche tun würde, um zu einer Zigarette zu kommen.

Ambros Uchtenhagen: Ich habe meine Cannabis-Erfahrungen in den 1950er Jahren gemacht – bevor es verboten wurde. Richtig nikotinabhängig war ich während zwanzig Jahren, danach hörte ich definitiv auf.

Sie suchen beide offenbar den Rausch nicht. Weshalb tun es so viele andere?

Uchtenhagen: Drogen bewirken ein Wohlgefühl, ein gewisses Glücksgefühl, das die Alltagssorgen in den Hintergrund treten lässt. Der Rausch ist für viele Menschen ein vorübergehender Zustand, eine Art Auszeit vom Alltag. Manche suchen den Rauschzustand zusammen mit anderen. Das Gemeinschaftsgefühl ist dabei wichtig, ein Gefühl des Dazugehörens – im Unterschied zum einsamen Rausch. Rituale des gemeinsamen Sich-Berauschens verstärken dieses Gefühl.

Welche Persönlichkeitsstruktur fördert den Wunsch nach einem Rausch?

Uchtenhagen: Es gibt genetische oder milieumässig beeinflusste Persönlichkeitseigenschaften, die dazu führen, dass Menschen immer wieder stimuliert sein wollen. Sogenannte Sensation-Seekers suchen immer wieder neue Gefahren und gehen dabei auch Risiken ein.

Dreifuss: Auch Berufe, die eine grosse Stressresistenz verlangen, können zu Drogenkonsum führen.

Wann wird die Suche nach dem Rausch zur Sucht?

Uchtenhagen: Wer wenig oder gar keine Erfolgserlebnisse hat, ist gefährdeter. Wir wissen aus der Hirnforschung, dass die Abhängigkeit von Substanzen, aber auch von Glücksspielen oder Internetkonsum über gleiche zerebrale Mechanismen zu positiven Erfahrungen führen kann wie andere Freuden oder das Lustempfinden. Das läuft über das sogenannte Belohnungssystem. Je weniger dieses in anderer Weise bedient werden kann, desto grösser ist die Gefahr, Tätigkeiten oder Substanzen mit Suchtpotenzial repetitiv einzusetzen.

Trotz den Gefahren plädieren Sie für eine Entkriminalisierung aller Drogen. Helfen Sanktionen nicht, die Finger davon zu lassen?

Uchtenhagen: Schauen Sie sich den Markt an. Es ist ein Milliardengeschäft, das sich trotz allen Verboten nicht aus der Welt schaffen lässt. Aber es verursacht extrem hohe Kosten mit geringem Wirkungsgrad. Prävention, Therapie und Schadensminderung sind wesentlich effizienter als Verbote. Deshalb müsste die Politik alle diese Massnahmen einbeziehen.

Dreifuss: Sanktionen bringen nichts. Es muss anerkannt werden, dass es zur Privatsphäre der Menschen gehört zu entscheiden, was sie konsumieren. Der Staat hat deshalb dafür zu sorgen, dass er die Gefahren in den Griff bekommt und den Markt effizient reguliert, so wie er es mit allen Produkten tut, die potenziell Schaden anrichten können. Auch der Drogenhandel darf nicht kriminellen Organisationen überlassen werden.

1992 erlaubte die Schweiz die Heroinabgabe für Schwerstsüchtige und formulierte die Viersäulenpolitik. Das ist zweifellos auch Ihr Verdienst.

Dreifuss: Mein Vorgänger, CVP-Bundesrat Flavio Cotti, machte die ersten Schritte. Ich durfte das Modell weiterentwickeln und umsetzen. Ich beschloss, die vorgesehene sehr kleine Zahl von Probanden auf über tausend Personen auszuweiten. Das war nötig, um den Letten zu schliessen und die Süchtigen nicht einfach in die Hinterhöfe abzudrängen. Ambros war anfangs allerdings sehr skeptisch gegenüber einer kontrollierten Heroinabgabe.

Uchtenhagen: Das stimmt. Ich lernte damals in England das Modell der Heroinverschreibung ohne Therapie kennen. Das leuchtete mir überhaupt nicht ein. Doch dann entwickelte der Arzt André Seidenberg ein Modell, dem ich zustimmen konnte. Wir konnten nicht nur Professionelle ins Boot holen, sondern auch die Politik.

Wie beurteilen Sie die heutige Schweizer Drogenpolitik?

Uchtenhagen: Die Schweiz ist immer noch ein Vorzeigeland in Bezug auf Heroin, aber blockiert in Bezug auf Cannabis.

Dreifuss: Punkto öffentliche Gesundheit ist die Schweiz immer noch ein Vorbild, bei der Entkriminalisierung und Regulierung der Märkte ist sie im Rückstand. Halbe Sachen sind nicht gut. Mit der Einführung einer administrativen Busse für den Drogenkonsum hat das Parlament das Strafniveau zwar gesenkt. Meines Erachtens sollte man aber ganz auf eine Bestrafung verzichten. Sinnvoll ist der vorgesehene Experimentierartikel, der mit Pilotversuchen die Folgen einer Regulierung der Drogenmärkte evaluiert. Man sollte die Versuche aber nicht auf Cannabis beschränken. Dass der Bundesrat damit anfangen möchte und strenge Bedingungen setzt, ist sehr vernünftig. Aber wenn man schon einen neuen Artikel ins Betäubungsmittelgesetz aufnimmt, sollte man auch bereit sein, künftige Probleme ebenfalls behutsam, wissenschaftlich evaluiert und mit einer breiten Information der Bevölkerung anzugehen.

Welche Erkenntnisse werden die Pilotversuche bringen?

Dreifuss: Natürlich werden sie nicht alle Fragen beantworten. Zum Beispiel, wie gross nach einer Ausdehnung der Einfluss auf den Schwarzmarkt wäre. Aber wir sehen schon jetzt interessante Dinge, etwa beim Cannabis, der die THC-Grenzwerte einhält: dass nämlich viele ältere Menschen solche Produkte kaufen. Übers Internet oder auf der Strasse taten sie das ungern. Weil sie aber wissen, dass Cannabis Symptome lindert und das Wohlbefinden steigert, nutzen sie die Möglichkeit, legale Cannabisprodukte zu erwerben.

Ist Kokain als Wochenend-Droge harmlos?

Uchtenhagen: Auch mit Wochenend-Trips lässt sich ein Leben mit allen Leistungsanforderungen führen, solange man körperlich, psychisch und sozial nicht überaus belastet ist. Sobald aber destabilisierende Faktoren im Job, in den Beziehungen und der Gesundheit auftreten, kann dies den Konsum intensivieren und der Beginn einer Abwärtsspirale sein.

Allerdings macht Kokain viel schneller abhängig als Alkohol.

Uchtenhagen: Natürlich kann man mit Laborversuchen zeigen, dass Tiere schneller von Kokain abhängig werden als von Alkohol. Aber die Situation von Labortieren ist ja auch nicht gerade tiergerecht.

Sie unterscheiden also nicht zwischen gefährlichen und weniger gefährlichen Drogen?

Uchtenhagen: O doch. Aber jede abhängigkeitserzeugende Substanz hat ihr eigenes Risikoprofil. Die einen bergen mehr körperliche, die anderen mehr psychische Risiken, manche machen schneller abhängig oder fördern schneller eine gewisse Randständigkeit. Diese unterschiedlichen Risikoprofile gilt es zu beachten. Manche Experten haben versucht, Rating-Scales für einzelne Substanzen aufzustellen. Der Engländer David Nutt kam zum klaren Schluss: Die grössten Gefahren insgesamt gehen von Alkohol und Nikotin aus.

Wenn schon müsste man also Alkohol und Nikotin und nicht Kokain verbieten.

Uchtenhagen: Wie gesagt, Verbote bringen nichts. Ich bin aber nur für eine Entkriminalisierung und nicht für eine Legalisierung von Kokain.

Dreifuss: Es ist absolut sinnlos, Menschen zu kriminalisieren wegen eines Verhaltens, das im schlimmsten Fall sie selbst, aber nicht die Mitmenschen schädigt. Hingegen sollten wie beim Tabak Massnahmen getroffen werden, die zum Beispiel vor Passivrauchen schützen. Tatsache ist Folgendes: Entweder kontrollieren die Menschen ihren Konsum, oder sie haben Probleme damit. In diesem Fall brauchen sie medizinische und psychosoziale Unterstützung.

Sind also auch Sie gegen eine Legalisierung?

Dreifuss: In der Drogenpolitik wirbeln die Schlagwörter legalisieren, liberalisieren und regulieren durcheinander. Ich bevorzuge regulieren, das heisst, der Staat übernimmt die Kontrolle. Das Wort liberalisieren vermeide ich absolut, weil es den Eindruck erweckt, das Produkt sei so frei konsumierbar wie zum Beispiel Milch – obwohl natürlich auch Milch staatlich kontrolliert ist oder sein sollte (lacht). Ich war ja auch zuständig für die Nahrungsmittelkontrolle. Der Begriff Legalisierung wiederum sagt nicht viel aus. Er besagt nur, dass es ein Gesetz braucht.

Was heisst Regulierung konkret? Dass der Staat die Preise festlegt?

Dreifuss: Viel mehr als das. Die Preise festzulegen, ist vielleicht das Einfachste, weil es sich um einen Markt handelt; der Preis sollte hoch genug sein, um präventiv zu wirken, aber nicht so hoch, dass er den Schwarzmarkt fördert. Weit wichtiger sind die Qualitätskontrolle, die Stärke der Produkte, die Art und Weise, wie sie produziert und verkauft werden, wieweit man auf solche Produkte aufmerksam machen darf und unter welchen Bedingungen man sie kaufen kann. Bereits heute gibt es Produkte wie Heroin, die man nur gegen ärztliches Rezept erhält – insofern ist das medizinische Heroin ein regulierter Teilmarkt. Das Produkt wird unter der Aufsicht des Staates produziert und darf nur in einer Tagesklinik bezogen werden.

Solche Regulierung ist auf Leute zugeschnitten, die bereits in der Sucht sind. Sollen auch Partygänger in der Apotheke Kokain fürs Wochenende kaufen können?

Dreifuss: Wahrscheinlich ja. Man muss das aber vorsichtig angehen: ausprobieren, Pilotprojekte aufbauen und beobachten, was in anderen Ländern passiert. Die internationale Kommission für Drogenpolitik, die ich präsidiere, empfiehlt klar, solche Reformen mit strengen Regeln zu verknüpfen. Denn es ist leichter, diese zu lockern – sofern es nach einer Evaluation der Konsequenzen sinnvoll erscheint – , als einen Schritt rückwärts zu machen.

Uchtenhagen: Genau. Wenn man Cannabis wie etwa im US-Bundesstaat Colorado legalisiert, dann untersteht es den Gesetzen des freien Markts mit seiner Tendenz zu Konsumsteigerung und Gewinnmaximierung. In Colorado sind Hunderte von Süssigkeiten mit Cannabis auf dem Markt, damit man möglichst früh auf den Geschmack kommt. Die legalen Milliardengewinne dürfen die Banken aber nicht annehmen, weil sie der nationalen Gesetzgebung unterstehen.

Dreifuss: In Kalifornien gibt es ganz andere Ansätze: Ehemalige Konsumenten und Kleindealer, die bis vor kurzem hart bestraft wurden, sollen mit dem Verkauf der legalen Droge beauftragt werden. Denn sie kennen die Risiken und erhalten so eine Chance, als Kleingewerbler ein Einkommen zu erzielen. In Uruguay ist die Produktion nur mit staatlicher Lizenz und im überschaubaren Rahmen erlaubt.

Vor zehn Jahren lehnte die Schweiz die Legalisierung von Cannabis ab. Seither kommt man nicht vom Fleck. Wo liegt das Problem?

Dreifuss: Meines Erachtens war es zum Teil eine Koinzidenz. Am selben Abstimmungssonntag wurde über das neue Betäubungsmittelgesetz abgestimmt, das die von Ambros wissenschaftlich begleitete und während zwanzig Jahren angewendete Viersäulenpolitik verankerte. Ich hatte ursprünglich gehofft, auch gleich die Cannabisfrage gesetzlich lösen zu können. Aber das war zu viel. Das Parlament strich den Passus aus dem Gesetz. Dann brachte die Initiative das Thema separat aufs Tapet, hatte aber keine Chance, weil die Priorität klar beim Gesetz lag.

Lag es nicht auch am fehlenden Jugendschutz?

Dreifuss: Natürlich. Schon damals befürchteten viele, dass man mit einer Regulierung das Signal aussenden würde, dass es gut sei, Cannabis zu rauchen. Diese Angst ist in der Bevölkerung stark verankert – obwohl sie mit den behutsamen Reformbestrebungen nichts zu tun hat.

Herr Uchtenhagen, Sie haben eben grade Ihren 90. Geburtstag gefeiert. Alte Menschen sagen oft, alt werden sei nicht schön. Empfinden Sie das auch so?

Uchtenhagen: Altern geht mit einem Machtverlust einher. Ich bin jedoch begeistert vom heutigen Trend, die Altersphase nicht mehr unter dem Gesichtspunkt des Abbaus zu sehen und zu diskutieren. Im Vordergrund steht die Optimierung, also das Beste aus dem zu machen, was wir noch haben.

Dreifuss: Macht zu haben, ist gut. Ich verhandle sehr gerne. Um zu verhandeln, muss man aber Macht haben. Man muss etwas auf den Tisch legen, dem andern etwas offerieren und dann etwas fordern können. Am Ende kommt man zu einem Resultat. Hat man keine Macht mehr, kann man immer noch werben und vermitteln. Der Machtverlust stört mich deswegen nicht. Wissen Sie, eine kleine Prise Macht hatte ich nur zehn Jahre lang, während meiner Zeit als Bundesrätin.