Ruth Dreifuss, Vorsitzende der Weltkommission, schreibt über Kofi Annan und Drogenpolitik in dem Tagesanzeiger

Eine fortschrittliche Drogenpolitik ist ganz im Sinne von Kofi Annan

Der verstorbene UNO-Generalsekretär hat sich für eine Drogenpolitik eingesetzt, die Konsumenten entkriminalisiert und ihnen Zugang zu Medikamenten verschafft. Seine Arbeit wird fortgesetzt.

Ruth Dreifuss und Kofi Annan, hier 2009 in Genf, setzten sich jahrelang gemeinsam für eine gerechtere Drogenpolitik ein. Foto: Martial Trezzini (Keystone)

In Genf treffen nächste Woche Vertreter aller Länder zur Weltgesundheitsversammlung zusammen. Einer jedoch, der viel dafür getan hat, dass die Weltgemeinschaft sich brennender Gesundheitsprobleme annimmt statt sie zuignorieren, wird fehlen: Kofi Annanverstarb letzten Sommer. Eine Veranstaltung im UNO-Gebäude wird seiner gedenken. Seine Überzeugungen, sein Einsatz bleiben Ansporn für eine Gesundheitspolitik im Dienste aller, ohne Diskriminierung aufgrund des Einkommens oder von Vorurteilen.

Kofi Annan wurde kurz vor der Jahrtausendwende Generalsekretär der Vereinten Nationen. Damals waren Ignoranz und Leugnung der HIV/Aids-Epidemie noch weit verbreitet, und die Zahl der neuen Infektionen nahm rasant zu. Ärmeren Ländern und ärmeren Gesellschaftsschichten weltweit war der Zugang zu den teuren antiretroviralen Medikamenten versperrt.

«Jeder Präsident, jeder Ministerpräsident, jeder Parlamentarier und Politiker muss entschieden handeln und verkünden: ‹Aids hört bei mir auf! Aids hört bei mir auf!›»Kofi Annan

Kofi Annan half entscheidend mit, die Tabus um Aids zu brechen. Er setzte jedes diplomatische Mittel und seine persönliche Ausstrahlung ein, um führende Politiker zu überzeugen – und wenn dies nicht half, dann wurde Kofi Annan direkt: «Freunde, wir wissen, was nötig ist für eine Trendwende bei dieser Epidemie. Jeder Präsident, jeder Ministerpräsident, jeder Parlamentarier und Politiker muss entschieden handeln und verkünden: ‹Aids hört bei mir auf! Aids hört bei mir auf!›»

Und Kofi Annan verlangte, dass Taten folgen. Als jährlich weniger als eine Milliarde US-Dollar für die Vorbeugung und Behandlung der HIV/Aids-Epidemie ausgegeben wurde, forderte er zehn Milliarden und wirkte so lange auf die Mächtigen ein, bis der Globale Fonds zur Bekämpfung von Aids, Tuberkulose und Malaria gegründet wurde. Als Generalsekretär verhandelte er mit der Pharmaindustrie, um die Preise für lebenswichtige antiretrovirale Medikamente so weit zu reduzieren, dass sie heute bereits über 21 Millionen Menschen erhalten.

Drogenkonsum ist eine Krankheit

Sich für von HIV betroffene Menschen einzusetzen, war zu Anfang seinerAmtszeit nicht selbstverständlich. Sie wurden als Randgruppe gesehen und stigmatisiert. Aber unter Kofi Annans Führung sah die Welt, dass Sexarbeiter(innen), Homosexuelle, Transgender-Personen und andere nicht ignoriert werden dürfen und wir mit ihnen zusammen ihre Rechte laut einfordern müssen. Er fasste seine Vision so zusammen: «Es ist mein Anspruch, dass Gesundheit nicht mehr als Segen gesehen wird, den man sich wünscht, sondern als ein Menschenrecht, für das man kämpft.»

In seinen letzten Jahren hat er sich für eine weitere Gruppe eingesetzt, deren Rechte noch immer nicht anerkannt sind: Menschen, die Drogen konsumieren. In weiten Teilen der Welt werden Drogennutzer stigmatisiert, eingesperrt und sogar getötet. Angst hält viele davon ab, medizinische Hilfe zu suchen.

Die heutige internationale Drogenpolitik richtet mehr Schaden an, als dass sie nützt, aber wissenschaftlich basierte Alternativen zu diskutieren, war und ist in vielen Ländern noch ein politisches Tabu. Daher hat sich eine Gruppe von ehemaligen Staats- oder Regierungschefs mit anderen berühmten Persönlichkeiten – Kofi Annan und ich eingeschlossen – in der Weltkommission für Drogenpolitik zusammengefunden, um diese moralischen Schranken zu durchbrechen und eine vernunftbasierte Diskussion zu ermöglichen.

Als wir 2011 unseren ersten Bericht veröffentlichten, erfuhren wir weltweite Aufmerksamkeit auch dadurch, dass jemand wie Kofi Annan laut kundgab, dass die derzeitige Drogenpolitik gescheitert ist und es radikaler Änderungen bedarf. Zusammen forderten wir zuallererst, dass der Gesundheitspolitik höchste Priorität in der Drogenpolitik gewährt wird.

Die Schweiz als Vorbild

In der Schweiz war seit Ende der 80er-Jahre, ein Prozess des Umdenkens im Gang. Als ich Bundesrätin wurde, hatten wir den grössten Drogenmarkt Europas unter freiem Himmel, und die Bürger sahen Drogen als eines der drängendsten Probleme der Politik an. Aber nachdem wir Drogenkonsumenten und -dealer von einem Ort vertrieben hatten, nur um wieder und wieder zu sehen, dass der Umschlagplatz an einer anderen Stelle neu entstand, als das Leiden der Menschen, die HIV-Ansteckungen durch unsauberes Injektionsmaterial und der Tod durch Drogen für alle sichtbar wurden, hörte die Politik auf Aktivisten und Menschen aus dem Gesundheitssektor, aus der Polizei und schliesslich auch auf die Drogenkonsumenten selbst.

So wurde unser kleines Land das erste in der Welt, in dem geschützte Konsumräume eröffnet wurden, und wir wurden zum Pionier auch für Massnahmen der Behandlung und sozialen Eingliederung, wie die heroingestützte Therapie, über die mehrmals abgestimmt wurde. Die Schweizer Drogenpolitik mit ihren vier Säulen (Prävention, Therapie, Schadensminderung sowie auch Repression) gilt als vorbildlich.

«Um die Macht der Kartelle zu brechen, brauchen wird vom Staat kontrollierte Drogenmärkte.»

Und so hat mich Kofi Annan eingeladen, unsere Schweizer Drogenpolitik in seiner Heimatregion Westafrika vorzustellen und somit die Arbeit der von ihm gegründeten westafrikanischen Drogenkommission zu unterstützen. Die Region ist tief religiös. Drogen werden dort meist als ein vom Teufel gesandtes Übel gesehen, sodass allein pragmatische Argumente nicht alle erreichen.

Umso wichtiger war es auch hier, dass er selbst und – auf seine Anregung hin – andere bekannte Persönlichkeiten aus Westafrika klar für die Menschenrechte von Drogenkonsumenten Stellung bezogen. Inzwischen gibt es in Senegal das erste staatlich gestützte Programm zur Schadensminderung, sowie Methadontherapie, und Kofi Annans Heimatland Ghana diskutiert im Parlament umfassende Reformen der Drogengesetze.

Komplexe Probleme, für alle verständlich

Gesundheitspolitische Massnahmen genügen aber nicht, um Schaden und Widersprüche, die aus der Prohibition entstehen, zu überwinden. Es bedarf unbedingt der Entkriminalisierung des Drogenkonsums und des Besitzes für den Eigengebrauch, um den angstfreien Zugang zu den Gesundheitseinrichtungen zu ermöglichen. Und vom Staat regulierte Drogenmärkte sind notwendig, um die Macht der Kartelle zu brechen und die gefährlichsten Produkte vom Markt zu verbannen. Auch diese Forderungen bekamen die volle Unterstützung von Kofi Annan.

Er hatte ein natürliches Talent dafür, komplexe Probleme auf den Punkt zu bringen und für alle verständlich zu machen. Dies tat er auch für die Drogenpolitik, wenn er sagte: «Ich glaube, dass Drogen viele Menschenleben zerstört haben – aber falsche Politik seitens der Regierungen hat noch viel mehr zerstört.»

Das ursprüngliche Bestreben aller Drogenpolitik ist festgehalten in der Präambel des 1961 abgeschlossenen «Einheitsabkommens über die Betäubungsmittel»: Sie soll «die Gesundheit und das Wohlergehen der Menschheit» schützen. Diese Ziele wurden aber weit verfehlt. Es ist Zeit für die Reformen, für die sich Kofi Annan starkgemacht hat.